TAGEBUCH

Rede des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Halle (Saale) am 8.11.2009 in Eisleben.

GEDENKFEIER ZU DEN NOVEMBERPOGROMEN

Der 9. November gibt uns in jedem Jahr den Anlass und den Raum uns zu erinnern und zu trauern. Sie und ich sind heute hierher gekommen und wir wollen gemeinsam der Ereignisse vor 71 Jahren gedenken, die wir heute „Reichspogromnacht“ nennen. Es gibt verschiedene Begriffe, die vielleicht sogar besser, treffender das beschreiben, was so schwer zu beschreiben ist. Aber der Begriff „Reichspogromnacht“ beinhaltet drei Wörter und drei Momente, über die

ich nachdenken muss.


Zum einen der Begriff „Reich“ – er erinnert daran, dass es sich um eine staatlich gelenkte und gewollte Aktion handelte. Judenhass, Gewalt und Zerstörungswut waren damals politische Ziele eines Landes geworden.


Zum anderen der Begriff Pogrom. Er beschreibt eine Massenausschreitung mit Randalen, Plünderung und Mord. Ein Pogrom richtet sich gegen Bevölkerungsgruppen und bedeutet, dass nicht mehr menschliches, soziales Verhalten, Nachbarschaft und Freundschaft regieren, sondern Barbarei die Macht an sich gerissen hat.


Und schließlich das Wort Nacht. Es spricht von der menschlichen Finsternis, die sich in Deutschland breitgemacht hatte und von der Hoffnungslosigkeit, die entsteht, wenn aus Angst oder aus Gleichgültigkeit die menschliche Würde nicht geschützt wird und keiner gehen das Dunkel von Gewalt und Unmenschlichkeit kämpft.


Ich muss dabei an eine Geschichte denken, die ich einmal gelesen habe: Ein Gelehrter wird gefragt, woran man erkenne, dass die Nacht zu Ende sei und der Tag beginne. Er antwortet: Wenn Du in das Gesicht eines Menschen siehst und darin den Bruder oder die Schwester erkennst. Dann ist die Nacht zu Ende und der Tag beginnt. Die Düsternis, die sich schon lange vor dem 9. November angekündigt hatte, war inzwischen so finster geworden, dass die Menschen nun nicht einmal mehr andere Menschen in den Gesichtern erkannten!


Der 9. November ist auch der Tag des Mauerfalls, der ein Grund zur Freude ist. Er ist ein Symbol dafür, dass Trennendes verschwindet und sich Fremde in die Gesichter schauen und sich wiedererkennen. Und deswegen ich sehe in diesen beiden Daten – im 9. November 1938 und im 9. November 1989 auch keine gegensätzlichen, sich ausschließenden Dinge. Es sind zwei Seiten einer Medaille.


Ich glaube, dass der 9. November uns zwei Dinge zeigen kann: Zum einen sehen wir, wie schnell die Menschlichkeit und die Zivilisation untergehen können, wie grausam Menschen mit anderen umgehen können und wie groß die Angst und die Gleichgültigkeit sein können. Wie leicht die Würde des Menschen nicht mehr geschützt werden kann, wenn keiner sich dafür interessiert oder die wenigen Stimmen zu leise sind. Der 9. November gibt uns den Auftrag wachsam zu sein, menschlich zu sein, respektvoll zu sein. Und er zeigt uns, dass es immer wieder möglich ist, Trennendes zu Überwinden und sich einander zuzuwenden.


Ich denke, dass der 9. November uns auffordert gegen das dunkle und trennende zu kämpfen, indem wir gemeinsam beständig daran arbeiten, dass wir in unseren Nachbarn irgendwann unsere Schwestern und Brüder erkennen.


Max Privorotzki

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