DIE SYNAGOGE

Die Bedeutung als Denkmal

Dr. Holger Brülls

Einordnung

Die Synagoge der Lutherstadt Eisleben gehört als jüdischer Kultusbau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Denkmalen von herausragender kulturgeschichtlicher Bedeutung im Bundesland Sachsen-Anhalt. Zugleich steht der Bau in geistesgeschichtlichen Bezügen, die über die hiesige Kulturlandschaft weit hinausreichen. Diese ergeben sich aus der während der Bauzeit der Synagoge und danach engen Verbindung der Eislebener jüdischen Gemeinde zu dem Rabbiner LUDWIG PHILIPPSON, dem herausragenden Vertreter der deutsch-jüdischen Reformbewegung und Motor des interreligiösen und interkulturellen Dialoges zwischen jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit im 19. Jahrhundert.

Baugeschichtliche Bedeutung
Die ehemalige Gottesdienststätte und Religionsschule der 1812 neugegründeten jüdischen Gemeinde liegt in der Eislebener Altstadt und ist ein dreigeschossiger straßenbildprägender Putzbau von 1850, entworfen und ausgeführt nach Plänen des Mansfelder Baumeisters Fiedler. In den damaligen Neubau sind in Keller und Erdgeschoss Reste eines älteren Vorgängerbaus des Jahres 1814 (oder früher) einbezogen worden. Es handelt sich um einen sehr stattlichen traufständigen Bau mit steilem Satteldach in straßenbildprägender Stellung in der Nachbarschaft von Luthers Geburtshaus. Das heutige Fassadenbild ist durch den Rundbogenstil des mittleren 19. Jahrhunderts geprägt. Im Erdgeschoß befanden sich sich ursprünglich Lehrerwohnung und Schulstuben. In den beiden Obergeschossen ist der Betsaal angeordnet, straßen- und hofseitig erkennbar an großen, heute zum Teil vermauerten Rundbogenfenstern. Bemerkenswert ist die exponierte Stellung des Synagogengebäudes im Straßenbild als Zeichen wachsender Emanzipation der jüdischen Gemeinden im frühen und mittleren 19. Jahrhundert. Betsaal und Frauenempore sind, jüdischer Tradition entsprechend, über gemeinsame, ab dem ersten Obergeschoss jedoch getrennte Vorräume und Treppenläufe erreichbar.

 

Das liturgische Inventar der bis in die NS-Zeit genutzten Synagoge (Thoraschrein, Almemor, Gestühl usw.) ist leider zerstört. Vom baufesten Inventar sind aber aus dem 19. und 20. Jahrhundert Türen und Treppen, im querorientierten Betsaal Teile der Frauenempore und die bemalte Flachdecke erhalten. Überaus bemerkenswert sind die reichen restauratorischen Befunde der ornamentalen Ausmalung des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich in ihren älteren Phasen dem spätklassizistischen Dekorationsstil des mittleren 19. Jahrhunderts einordnen lassen, während eine jüngere Überfassung aus den 1920er Jahren mit ihren ungebrochenen starken Buntfarben expressionistische Züge erkennen läßt.
Trotz verschiedener baulicher Beeinträchtigungen ist das Gebäude in seiner äußeren und inneren Substanz gut erhalten und in seiner ursprünglichen Gestalt gut erkennbar. Die Synagoge kann im Zuge ihrer Instandsetzung durch vergleichsweise geringe befundgestützte Eingriffe und Ergänzungen ihrer ursprünglichen Raumgestalt und funktionalen Raumordnung – hier insbesondere durch Wiederherstellung des Betsaales im Obergeschoss – angenähert werden.

Geistesgeschichtliche Bedeutung

Sind jüdische Kultusbauten wegen der immensen Zerstörungen während der NS-Diktatur – und allerdings durch Vernachlässigung auch noch in der Nachkriegszeit ! – wegen ihrer großen Seltenheit durchweg Kulturdenkmale von besonderer Bedeutung, so kommt doch der Eislebener Synagoge eine herausragende, auch aus nationaler Perspektive relevante Wertigkeit insofern zu, als sie unter dem Rabbinat LUDWIG PHILIPPSONS (1811-1889) entstand.

Der in Dessau geborene PHILIPPSON war von 1833 bis 1861 für 28 Jahre lang in Magdeburg als Rabbiner tätig und betreute von dort aus die Gemeinden seines Umfeldes in der preußischen Provinz Sachen theologisch und seelsorgerisch. Er gehörte zu den wichtigsten und einflußreichsten intellektuellen Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Es darf als sicher gelten, dass PHILIPPSON während seiner Amtszeit die Eislebener Gemeinde in religiösen Dingen und also auch bei Bau und Einrichtung der neuen Synagoge als zuständige rabbinische Autorität intensiv beriet und anleitete.

PHILIPPSON hielt in der Synagoge zu Eisleben die Einweihungspredigt in deutscher (statt in jiddischer) Sprache und exponierte sich durch diesen programmatischen öffentlichen Auftritt auch gegenüber dem christlichen Umfeld als einer der führenden Träger deutsch-jüdischer Kanzelrhetorik, die sich am rhetorischen und reflexiven Niveau akademischer Bildung und protestantischer Theologie jener Zeit maß. PHILIPPSON ist insofern eine Symbolfigur nicht nur des innerjüdischen Reformprozesses, sondern auch eines von jüdischer Seite aktiv geforderten und realisierten Dialoges zwischen Juden und Christen in einer vom religiösen und politischen Antisemitismus noch weithin dominierten Gesellschaft.


PHILIPPSON trat in seiner Magdeburger Zeit nicht nur als liberaler Rabbiner in Erscheinung, sondern auch als führender Publizist und Herausgeber der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“, die im gesamten deutschen Sprachraum Verbreitung fand. Er gehörte außerdem zu den Mitbegründern der hochbedeutenden Berliner „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ und gründete 1855 ein „Institut zur Förderung der israelitischen Literatur“. In der Tradition des aufgeklärten Anhalt-Dessauischen Judentums stehend, galt seine publizistische und theologische Arbeit einer umfassenden kulturellen Modernisierung des Judentums. Seine Anliegen waren nicht nur die Reform des Gottesdienstes und die Anpassung des jüdischen Zeremonialgesetzes an die moderne Lebenswirklichkeit. Er propagierte auch umfassende schulische und wissenschaftliche Bildung des jüdischen Bevölkerungsanteils sowie die intensive Förderung der deutschen Sprache im gottesdienstlichen, geistigen und alltäglichen Leben der deutschen Juden.


Für die Geschichte des von Berlin und Mitteldeutschland wesentlich ausstrahlenden deutschen Reformjudentums und dessen späterhin dominante Stellung sowohl im europäischen Ausland wie insbesondere auch in den USA ist LUDWIG PHILIPPSONS Wirken daher bis heute von anhaltender kultur- und religionsgeschichtlicher Bedeutung.

Bedeutung der Synagoge im Kontext der Lutherstätten

(UNESCO-Welterbe)

In der Eislebener Synagoge, als einer Stätte seines Wirkens, manifestiert sich daher die ganze Spannweite der theologisch-pädagogischen Tätigkeit PHILIPPSONS, der sowohl als geistlicher Mentor jüdischer Provinzgemeinden wirkte wie auch als führender Kopf des deutschen Reformjudentums mit internationaler publizistischer Ausstrahlung in Erscheinung trat. Zugleich wird in dem stattlichen Bauwerk die im frühen 19. Jahrhundert kraftvoll anhebende kulturelle Integrationsbewegung innerhalb der deutsch-jüdischen Bevölkerung deutlich, die freilich durch das gleichzeitige Erstarken antisemitischer Bewegungen schwerste Hemmnisse erfuhr, was schließlich zur Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürger in Städten wie Eisleben und überall in Deutschland durch das nationalsozialistische Regime führte.

Der geistesgeschichtliche Kontext, in dem das Synagogengebäudes steht, wird bereichert durch die Nähe der Eislebener Lutherstätten sowie die unmittelbare Nachbarschaft von Luthers Geburtshaus, die als Denkmale der Reformation von internationaler Bedeutung auf der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO stehen.

 

Es ist vorgesehen, die Synagoge nach ihrer denkmalpflegerischen Instandsetzung in einen nicht nur räumlichen und städtebaulichen, sondern auch inhaltlich-konzeptionellen Kontext mit diesen Museen und Gedenkstätten einzubinden. Die Synagoge erscheint als der ideale Ort, religions- und kulturgeschichtlich gleichermaßen interessante Themen wie „Judentum und Protestantismus“ oder „Luther und die Juden “ museal und in anderen geeigneten Präsentations- und Veranstaltungsformen darzustellen. Es könnten hier insbesondere auch die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen jüdischer Reformbewegung und Protestantismus thematisiert werden, wie sie für den innerjüdischen Reformprozess im 19. Jahrhundert, aber auch für die Herausbildung einer kulturellen und religiösen Akzeptanz gegenüber dem Judentum im christlichen Milieu  von größter Bedeutung waren. Es ist dies eine durch die nachfolgenden Exzesse des Antisemitismus und die Verfolgungsgeschichte des deutschen Judentums im Nationalsozialismus bedauerlicherweise in Vergessenheit geratene Facette deutsch-jüdischer Existenz, die an einem Ort wie Eisleben besonders wirkungsvoll ins Blickfeld gerückt werden kann.

Das Landesamt misst daher der Synagoge in Eisleben nationale Bedeutung zu und empfiehlt mit Nachdruck eine großzügige Unterstützung der baulichen Sicherungs- und Restaurierungsarbeiten aus allen dafür infragekommenden Förderquellen.

 

Dr. Holger Brülls  

Landesamt für Denkmalpflege

Halle, den 13. November 2003

Die Eisleber Synagoge in der Lutherstraße. Rekonstruktion des Zustandes von 1910.

Zum Vergleich: Die Synagoge in Cavaillon mit einer ähnlichen Anordnung der Frauenempore.

Die Deckenbemalung im Betsaal.

Synagoge in Gröbzig: Vorbilder für Ergänzungen und befundgestützte Rekonstruktion.

Alte Synagoge Dessau, Hofansicht um 1900.

Synagoge in  in Essen 1914.

Die Einweihungspredigt von 1850.

Alte Synagoge Magdeburg, Große Schulstraße 22 c. Außenansicht der ehemaligen Synagoge, 1938 zerstört, 1939 abgebrochen.