TAGEBUCH

Die Karteikarte von Alfred Katzenstein im KZ Bichenwald

RÜCKSCHAU: FRAU STÖHR BESUCHTE EISLEBEN

Der Kontakt zur Familie Stöhr ist zufällig entstanden. Der Sohn von Frau Stöhr unterhielt sich öfter mit seiner Mutter über die Familie Katzenstein und da suchte er im Internet nach Informationen über die Eisleber Familie Katzenstein. Er wurde fündig auf der Seite des Eisleber Synagogenvereins.


So kam der Kontakt zum Verein zustande. Schnell war ein Besuchstermin ausgemacht und man traf sich in der Geiststraße 6, in Eisleben.


Nun aber zur Person von Frau Stöhr: Sie wohnt in Leipzig, wird 94 Jahre alt und ist in einem Wohnkomplex für betreutes Wohnen zu Hause. Ihre Mutter hat bei der Familie Katzenstein als Haushaltshilfe gearbeitet in der Zeit von 1925 bis 1927. Nach ihrer Heirat hat sie immer den Kontakt zur Familie Katzenstein gehalten und die Tochter berichtete dann in der Synagoge über ihre Erinnerungen an die Familie Katzenstein.


Sie berichtete über den 9. November 1938, dem Pogrom in Deutschland, und konnte sehr detailliert über dieses Ereignis bei der Familie Katzenstein berichten. So erzählte sie, dass am späten Nachmittag, SA-Leute aus der Hotelgaststätte „Parkhotel“ kamen, und sie holten gerade Daunendecken von der Familie Katzenstein ab und wollten gerade mit den Fahrrädern nach Wolferode nach Hause fahren, als die SA-Männer das Haus stürmten. Mit Gewalt haben sie die Tür aufgestoßen und sind ins Haus hereingestolpert. 


Der eine fragte den Vater von Frau Stöhr, was er hier mache und er antwortete, dass sie ihre Fahrräder im Hof abgestellt haben und jetzt nach Hause wollen. Darauf die Antwort: „Und dass müssen sie ausgerecht beim Juden machen?“


Wir machten uns los und sahen noch, wie sie Herrn Katzenstein abführten, der unbemerkt sein EK I aus dem 1. Weltkrieg einsteckte. Er wurde in Untersuchungshaft genommen und mit anderen Eisleber Juden nach Buchenwald gebracht, wo er im Dezember entlassen wurde.

Am nächsten Tag fuhr meine Mutter wieder zu Katzenstein und sah die Frau in der Küche starr und blass sitzend vor einer Trümmerwüste. Das Geschirr war zerschlagen, die Möbel aus dem Kinderzimmer, die ich bekommen sollte waren nur noch Brennholz und die großen Ledersessel, die ein Arzt gekauft hatte, waren mit Messern aufgeritzt. Meine Mutter half die Scherben und die Zerstörungen zu beseitigen. Von den 12 Stühlen und dem Wohnzimmer war auch nicht viel übriggeblieben, die meine Eltern Möbel käuflich erwerben wollten.


Im Januar 1941 traf ich Frau Katzenstein in der Danziger Straße (heute Fritz-Wenck-Straße). Sie wollte einkaufen gehen, aber da war der Weg doch falsch. Sie antwortete: „Ich will nicht durch die Stadt gehen, wo es kürzer ist, wegen den Leuten.“


Als ich im Februar 1941 an der Tür in der Geiststraße klingeln wollte und die drei Stufen hochging, war keine Tür mehr da, der Eingang war zugemauert.


Das letzte Mal sah ich sie in der Bahnhofstraße, wo sie mit anderen, wahrscheinlich Juden, die Straße kehrte. Ich erkannte sie wegen ihrer weißen, großen Haarpracht, aber ich habe sie nicht angesprochen. Das war im Februar 1942. Da habe ich sie zum letzten Mal gesehen.


Ich weiß, dass Katzensteins Ausreisegenehmigungen hatten, aber es gelang ihnen nicht, sie zu realisieren. So haben sie in Eisleben im Kastanienweg die letzten Monate gelebt, bevor sie am 15. April 1942 nach Halle transportiert wurden und am 1. Juni 1942 mit den anderen Eisleber Juden im Transport DE 57 nach Sobibor deportiert und ermordet wurden.


Rüdiger Seidel

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