TAGEBUCH

Im Haus Lutherstaße 17 , rechts neben Luthers Geburtshaus, hatte die jüdische Familie Firiedmann ihren Schuhladen. Wilfried Reuter erzählt, was hier am 9. November geschah.

ERINNERUNGEN AN FRITZ FRIEDMANN

9. November – Mein Schuster

Eine Kindheitserinnerung an den 9. November 1938


Als ich mich nach dem Unterricht nach Hause trollte, zog es mich auf einen schmalen Weg oberhalb des Bachbettes zu „meinem Schuster“, wo ich einen beim Ranzenweitwurf abgegangenen Riemen annähen wollte. Erstmals begegneten wir uns, als beim Bergabwettlauf auf einer Kupferschieferhalde bei Eisleben der Absatz des rechten Schuhes mit Schieferstückchen hinabrollte. Obendrein platzte die Naht am Schuh. Dem Schuster, wie ich ihn respektlos für mich nannte, zeigte ich den Schaden, erzählte gleichzeitig, ein wenig herum drucksend, dass ich nur 50 Pfennig Taschengeld im Monat bekäme. „Das musst du schon selbst in Ordnung bringen“, er gab mir eine Ahle, die gebogenen Nadeln, den gewachsten oder „gepichteten“ Schusterzwirn und unterwies mich. Das schmale, faltige Gesicht „Meines Schusters“, zierte ein Bart. Er hatte lebhafte, gütige Augen, Geduld und Freude am Erklären. In der Ecke stand eine angestaubte große Kiste mit alten zerflederten Schuhen, Lederresten, Ösen, Schnürsenkeln, eine bejahrte, schäbige Schatz- und Wunderkiste. Mein Schuster zauberte aus dem Abfall „neue Kinderschuhe“, die aussahen als wären sie neu und extra so modisch gestaltet. Mein Schuster mit einem Käppi, wie eine zu kleine Baskenmütze, war ein Schumacherkünstler. Seine Kunden waren meist Kinder und ältere Frauen.


Im Jahr 1938 zogen politische Gewitterwolken auf. Im März kam Österreich „ins Reich“, im Juni begann der Bau des Westwalls, dann das Münchener Abkommen, zu dem mein Vater äußerte: „Der Appetit kommt mit dem Essen“. Hart traf mich dieser trübe Novembertag, morgens war schon zu Hause Unruhe. Im Radio kamen Meldungen von der Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris durch einen Juden aus Deutschland. Jüdische Synagogen sollen angezündet und jüdische Kaufhäuser von der „aufgebrachten, erregten, wütenden Menge“ gestürmt worden sein. SA sei mobilisiert um gemeinsam mit der Polizei Ordnung zu schaffen. Auf dem Weg zur Schule sah ich an Luthers Geburtshaus vorbei kommend einige schreiende Leute. Näher hin laufend erblickte ich einen Halbkreis von SA-Leuten und einen teilnahmslos daneben stehenden Polizisten vor dem Ladeneingang meines Schusters. Der Anblick traf mich ins Herz, auf der Eingangstreppe lag er, noch magerer als sonst, Blut floss aus dem Mundwinkel, die Kleidung war zerrissen. „Judas verrecke“ riefen die „aufgebrachten“ Menschen, immer neu von den SA-Leuten zurück gedrängt. Meinen Augen nicht trauend erkannte ich Kleinstück, den früheren Parkwächter und späteren SA-Schläger, der, wie mein Bruder berichtet hatte, beim Eisleber Blutsonntag 1933 dabei gewesen war. Kleinstück in Zivil, dieses oft besoffene Schwein, der uns Kinder im Park drangsaliert hatte, spielte jetzt mit einigen Zechkumpanen „die wütende Menge“. Nachts im Traum habe ich den SA-Mann Kleinstück erschlagen.


Als 1977 meine Frau und ich in Auschwitz erschüttert vor den Gaskammern standen, dachte ich trauernd an „meinen Schuster“.


Aus: W. Reuter „Frieder“ – Erinnerungen an meine Kindheit 1930 bis 1945, Projekt Piccolo, Dresden, 2004. Herausgeber: Projekt Piccolo Dresden, Ulrich Reinsch, Am Galgenberg 68, 01257 Dresden . Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Herausgebers.


Dazu aus unserer Datensammlung:

Fritz Friedmann wurde 1881 geboren. Er war verheiratet mit Gertrud, der Tochter des Viehhändlers Moritz Katzenstein aus Eisleben.  Ihre Tochter Esther, genannt Emmi, wurde 1922 geboren und besuchte das Eisleber Lyzeum. 1939 musste die Familie nach Shanghai fliehen. Hier lebten die Flüchtlinge oft unter sehr erbärmlichen Umständen, in deren Folge Fritz Friedmann am 30. Oktober 1942 verstarb. Emmi starb am 24. August 1943. Gertrud Friedmann konnte 1947 in die USA ausreisen.


Sebastian Funk