„Eisleben den 4. Februar (Eingesandt.)
Über „Rituelle Morde der Juden und der Knabenmord in Xanten“ sprach am 1. Februar im Saale des Gasthofes „Zur grünen Tanne“ in einer sehr gut besuchten Vereinsversammlung des hiesigen Reform-Vereins der Vorsitzende Herr G. Krüger. […]
In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion wurde den anwesenden Herren ein neuer Beitrag zum Kapitel über rituelle Blutabzapfung geliefert. Ein hiesiger Bürger, der als Gast in der Versammlung erschienen war und Anspruch auf Glaubwürdigkeit wohl verdiente, sagte aus, nachdem er den Vortrag über rituelle Morde der Juden mit Interesse verfolgt und nun wohl Grund hatte, die rituelle Bedeutung der Fälle Damaskus, Lutscha, Tisza- Eszlar, Skurz usw. mit seinem Fall zu vergleichen, daß er in seinem 16. Jahre als Handwerker in einem kleinen Städtchen Polens Gelegenheit gehabt hätte, mit Juden Verkehr zu pflegen. Die Freundschaft zwischen ihm und denselben wurde durch den allabendlichen Verkehr so intim, dass er gern und wiederholt den Einladungen der Juden, mit ihnen in den Tempel zu gehen, Folge leistete.
Dort wurde ihm von den Juden allerhand Leckereien und süße Getränke verabreicht. Als er dem Tempel mehrere Male seinen Besuch abgestattet hatte, erhielt er an einem Freitag Abend – es war die Zeit vor dem jüdischen Osterfeste – abermals die Aufforderung, mit in den Tempel zu kommen. Die ihn dorthin begleitenden Juden ließen ihn zunächst an der äußeren Tür stehen, um ihn später hereinzuholen. Kaum war er näher getreten, so wurde ihm die Mitteilung gemacht, das sein Aufenthalt im Tempel nur dann noch gestattet werden könnte, wenn er „rein“ sei, und dass er zur Feststellung dieser Voraussetzung einer Prüfung unterzogen werden müßte.
Es erschien dann auch sogleich ein älterer Jude, umhängt mit einem großen weißen Tuch, eine schwarze Kopfbedeckung tragend und bat ihn, seinen linken Arm zu entblößen. Diesem Ansinnen wurde, nichts böses ahnend, Folge geleistet. Hierauf machte derselbe Jude dem Gast, der evangel. Christ ist, einen Schnitt mit einem kleinen scharfen Messer in das innere Ellbogengelenk und fing das aus der Wunde fließende Blut in einer schon bereit stehenden Schale auf, während dieser Operation die anderen Juden ihm unverständliche (jedenfalls hebräische) Lieder sangen. Die entstandene Wunde wurde verbunden und es erfolgte die Heilung nach ca. 8 – 14 Tagen. Die Narbe ist jetzt noch zu sehen und zeigte der betreffende dieselbe vor.“ (1)
Soweit der Text. Bereits in der nächsten Ausgabe der Eisleber Zeitung, am 9. Februar 1892, wurde von den beiden jüdischen Kaufleuten aus Eisleben, Max Zweig und Walther Simon, diese Gegendarstellung veröffentlicht (2):
„Die Staatsbürgerzeitung“ hetzte dazu in Ihrer Ausgabe vom 10. Februar: „Zur Frage der rituellen Blutabzapfung […] können wir im Folgenden ein neues Beispiel aufführen“ und bemerkte am Schluss: “ Das war zwei waschechten dortigen Juden […] Veranlassung, […] eine Anzeige zu veröffentlichen, in der sie den ehrbaren Bürger in recht jüdischer Unverschämtheit als Lügner und böswilligen Verleumder hinstellen. Da der grob Beleidigte die Sache nicht wird auf sich sitzen lassen, ist es erfreulich, daß die Angelegenheit vor Gericht zum Austrag kommen wird.“ (3)
Der christliche Theologe Prof. Hermann Strack aus Berlin hielt eine gerichtliche Klarstellung ebenfalls, wenn auch aus umgekehrten Beweggründen, für wünschenswert und schrieb daher an den Vorsitzenden des Eisleber Reformvereines, Herrn Krüger, dass der Redner, wenn er die Wahrheit gesagt habe, sie auch öffentlich vertreten müsse.
Der „ehrbare Bürger“, der Bergmann W. Schneider, klagte aber nicht, sondern stellte nur im Mai bei der Staatsanwaltschaft den Antrag, sie möge im öffentlichen Interesse gegen W. Simon und M. Zweig einschreiten. Nach wenigen Tagen erfolgte ein, selbstverständlich ablehnender, Bescheid der Eisleber Staatsanwaltschaft. Damit hat Schneider offenbar erkannt, dass es klüger sei, den Beweis für die Wahrheit seiner Behauptungen gar nicht erst zu versuchen. (4)
In der Literatur liest man häufiger, dass der Antisemitismus sich in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt gebildet habe. Ausdruck fand er jedenfalls in dem 1879 in Sachsen gegründeten „Deutschen Reformverein“, der klar antisemitisch war. (5) Offenbar hat es auch in Eisleben eine Ortsgruppe dieses Vereines gegeben. Welchen Einfluss er in der Stadt hatte und welche Aktionen er sonst noch hervorbrachte wird sicher noch untersucht werden.
Prof. Starck hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Beschuldigungen gegen die Juden wegen angeblicher ritueller Opfer zu widerlegen. In zahlreichen Auflagen seiner Bücher bewies er, dass weder die Päpste noch die jüdische Religion derlei Handlungen billigten. Dabei griff er die immer neuen Fälle angeblicher Ritual-Verbrechen auf und widerlegte sie.
Und die beiden Eisleber Juden?
Walther Simon enstammte einer der ältesten jüdischen Familien in Eisleben. Er hatte das Königliche Gymnasium in Eisleben besucht und führte das Familienunternehmen „S&M Simon Tuch-, Manufactur- und Modewarengeschäft“ am Markt 49 bis 1885. Dann verkaufte er es und trat als Teilhaber und Disponent in das Manufacturwaarengeschäft beim Bankhaus Heilbrun ein. Er starb im Jahre 1900.
Max Zweig finden wir 1875 zum ersten Mal in Eisleben, als er das Haus Sangerhäuser Straße 16 kaufte und dort seinen Laden einrichtete. Anfang der 1890er Jahre bewies er abermals
Der Eisleber Heimatforscher Rolf Enke schrieb mir dazu:
In einen Buch über die Häuserzerstörung von 1897 fand ich die handschriftliche Eintragung:
„Der Jude Max Zweig hat durch Eingabe an Kaiser Wilhelm II. persönlich erreicht, daß die Mansfeldische Gewerkschaft 500 Häuser käuflich übernehmen und baulich wieder herstellen mußte.“ (6)
Kurz nach 1900 verließ Zweig die Stadt mit seiner Familie.
Sebastian Funk
Quellen:
(1)Eisleber Zeitung Nr. 32 vom 07.02.1892
(2) Eisleber Zeitung Nr. 33 vom 09.02.1892
(3)Staatsbürger Zeitung Nr. 68 vom 10.02.1892
(4)Strack, Hermann: „Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit.“ München 1900.
(5) Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen. Frankfurt am Main, 2003.
(6)Rolf Enke: Email 2009