Liebe Familie, liebe Freunde, liebe Freunde des Eislebener Synagogen Vereins, liebe Eisleber.
Dies ist ein besonderer Moment für mich, für uns alle hier in Eisleben zu sein und mit Euch unserem Großvater Willy Rosenthal, seiner Schwester Frieda Rosenthal, ihrem Bruder Erich Rosenthal und seiner Frau Flori zu gedenken. Wir erinnern auch an Willys und Friedas Bruder Siegfried und seine Frau Selma, an ihren Bruder Ernst, der vor hundert Jahren im Ersten Weltkrieg für Deutschland kämpfte und fiel sowie an ihren Bruder Martin über den wir leider nicht viel wissen. Bis vor kurzem war ich sicher, dass die einzigen Menschen in der Welt, die sich überhaupt noch an die Existenz unserer Verwandten erinnern, wir ihre Enkel sind, vielleicht unsere Kinder, die Urenkel.
Als ich die Webseite entdeckte, die Sie als Mitglieder des Eislebener Synagogen Vereins über unsere Verwandten gestaltet haben, war ich tief berührt und sehr überrascht. Ich hatte in keinem Moment gedacht, dass Menschen in Eisleben – dem Geburtsort unseres Großvaters und seiner Geschwister – einmal viel Zeit und Energie darauf verwenden würden, das Schicksal unserer Verwandten zu erforschen und die Ergebnisse der Recherche zu publizieren. Die Tatsache, dass Sie sich zu dieser Spurensuche entschieden haben, schätzen wir, die wir hier aus Israel angereist sind, sehr. Ich möchte mich als erstes bedanken, bei Ihnen für Ihr Engagement, bei Günther Demning, dem Initiator des Stolpersteine Projekts, für seine Arbeit und für die Einladung, dabei zu sein, wenn die Stolpersteine zum Gedenken an unsere Großeltern ihren Platz in Eisleben finden. Wir denken keineswegs, dass dies eine selbstverständliche Geste ist und gerade deshalb möchte ich Ihnen ausdrücklich dafür danken.
Ich hörte zum ersten Mal von Ihrer Webseite, als Linda, die Frau meines Cousins Peter aus Australien, der Sohn von Traute und Enkel von Frieda Rosenthal, in Pension ging und begann die Geschichte der Familie zu recherchieren. Sie war es, die Ihre Webseite fand und uns den link schickte; leider können Linda und ihr Mann heute nicht persönlich hier sein. Doch sie sind dennoch hier in unseren und Ihren Gedanken, ebenso wie Evelyn, Peters Schwester und ihre Kinder Nadia und Mark. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Dir Linda zu danken für Deine Initiative, die uns alle hier zusammengebracht hat. Ich bin ebenso froh, dass meine Freundin Ute hier ist, die mich in all den Jahren auf meiner komplizierten Deutschlandreise begleitet hat. Vielen Dank Ute für Deine wunderbare Freundschaft, und vielen Dank Jonja und Lilly, dass ihr bei dieser Gelegenheit dabei seid.
Mein Großvater Willy, den ich zwar niemals getroffen habe, hat dennoch eine bedeutsame Rolle in meinem Leben gespielt. Als mein Vater 1936 nach Israel kam, ein 15-jähriger Junge, den man aus der Schule geworfen hat, weil er Jude war, brachte er ein Foto-Album mit. In diesem Album waren auch Fotos von seinem Vater als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg sowie einige Postkarten, die er (mein Großvater) von der Front an seine Eltern geschrieben hatte. Erst jetzt, kurz vor unserer Reise, schaute ich diese Karten erneut an und entdeckte, dass sie an Lutherstrasse 14 und Plan 8 in Eisleben adressiert waren, die Orte die wir nun besuchen. Bis heute hatten diese Adressen keinerlei Bedeutung für mich. Jetzt schon. Danke auch dafür.
Was mich an den Fotos faszinierte, war offensichtlich nicht die Adresse, vielmehr der Mann, den ich darauf gesehen habe: Jung, sehr gut aussehend. Er wirkt zuversichtlich und stolz. „Bin doch schön? Glaub’s auch!“ schrieb er auf ein Foto aus dem Jahr 1907, damals war er 18 Jahre alt, so alt wie meine Tochter Gal heute. Doch am besten sieht er auf einem Foto aus, das ihn gemeinsam mit seinen Kameraden während des Krieges zeigte. Dort steht er in seiner Uniform mit golden glänzenden Knöpfen und einem witzigen kaiserlichen Hut. Er schaut ernst, stolz, seine Augen glänzen. Die Männer auf dem Foto waren die Stube 10. Ein handgeschriebener Text auf dem Bild beschwört deutsche Vaterlandsliebe. „Wer Deutschlands Grenzen hat bewacht, hat als Soldat was mitgemacht.“ In Willys Augen sieht man den Stolz zu dieser Truppe zu gehören. Durch Lindas Recherche habe ich erst kürzlich erfahren, dass Willys Bruder Ernst ebenso wie Friedas Mann Heinrich Schulze auch im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Ich bin sicher, dass Willy und seine Geschwister zutiefst davon überzeugt waren, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein: Dazu zu gehören. 25 Jahre später endete das Gefühl des Stolzes und des Dazugehörens – wie wir wissen – für eine ganze Generation in den Gaskammern von Majdanek und Auschwitz.
Es ist diese unvorstellbare Kluft zwischen dem Stolz Teil der ‚Grenzwache’ zu sein und dem Grauen das die Realisierung des Ausschlusses, des Herausgeworfenseins bedeutet, die mich verfolgt. Wo waren die Kameraden aus der Stube 10 1939 als das Geschäft meines Großvaters ‚arisiert’ wurde? Hat er versucht Kontakt zu ihnen aufzunehmen? Hat er sie um Hilfe gebeten als er am 2. Mai 1942 den Befehl erhielt sein Haus zu verlassen und in den Osten deportiert wurde? Das werden wir nie erfahren. Ebenso wenig wissen wir, ob mein Großvater in seinen letzten Stunden des Grauens, möglicherweise in Majdanek wartend auf etwas von dem er dachte, es handle sich um ‚Duschen’, sich vorstellen konnte, dass sein Sohn, der längst aus Deutschland geflohen war, dass dieser Sohn, überlebt, heiratet, Kinder hat, die wiederum Kindern haben. Und dass seine Enkel und Urenkel 75 Jahre nach seinem unvorstellbar schrecklichen Tod in seine Heimatstadt Eisleben reisen, um an sein Leben zu erinnern und zu seinen Ehren gemeinsam mit den Einwohnern von Eisleben einen Stolperstein in das Pflaster einzulassen. Ich bin mir sicher, er konnte sich auch nicht ansatzweise dieses Ereignis vorstellen oder von etwas Ähnlichem träumen. Und doch: wir sind alle hier und es geschieht hier.
Was von dieser millionenfach wiederholten, wieder und wieder erzählten Geschichte gelernt werden kann, ist offensichtlich für mich: Der unerschütterliche Einsatz für universelle Menschenrechte überall auf der Welt für jedermann. Das ist keine einfache Aufgabe und die Entwicklungen der letzten Jahre haben uns gezeigt, dass obwohl wir dachten, wir seien ein gutes Stück vorangekommen, es bedauerlicherweise auch wieder rückwärtsgehen kann. Ich denke, dass Sie, der Eislebener Synagogen Verein, sich in diese Auseinandersetzung auf beeindruckende Weise einmischen. Ich weiß, dass diese Zeremonie nicht nur für uns organisiert wurde sondern auch für die Kinder der Stadt, die durch die Erinnerung an die lange vergessenen Mitbewohner, etwas lernen sollen über Demokratie und Grenzen – moralische, nicht nationale – die leidenschaftlich verteidigt werden müssen, die nicht überschritten werden dürfen. Wir koennen auf auf keinen Fall zulassen, dass dies noch einmal geschieht, und wenn wir nicht alles verhindern koennen – wie wir leider in den letzten Jahren sehen – dann sind wir doch verpflichtet, unsere bestens zu tun. Ich hoffe, dieses Botschaft wird mit den Stolpersteine hier bleiben, auch wenn wir alle nicht mehr hier sind.
Danke
Rolly Rosen