Die Häuser der jüdischen Mitbürger

Rammtorstraße 49 "Das Judenhaus"

Das Haus Rammtorstraße 49 gehörte seit den 1890er Jahren der jüdischen Familie Bratel, die hier wohnten und ihren Laden hatten.

Seit 1941 wurde das Haus durch die Nationalsozialisten als so genanntes „Judenhaus“ zum Sammelpunkt vor der Deportation für die in der Stadt verbliebenen Juden benutzt, die hier auf engstem Raum leben mussten.

Alle von den elf Menschen, die hier eingesperrt waren, wurden durch die Nationalsozialisten ermordet.

RAMMTORSTRASSE 49

DAS ZUHAUSE DER FAMILIE BRATEL

In diesem Haus lebte die jüdische Familie Bratel. Sie waren Kaufleute und hatten im Erdgeschoss ihr Geschäft für Woll- Weiß- und Kurzwaren. Darüber wohnten sie.

PINKUS BRATEL

 

Pinkus Bratel war am 12. Juli 1837 in Lemberg in Galizien geboren worden. Er war verheiratet mit Marie Gut (1833-1898), die aus Lemberg stammte. Die beiden werden also wohl gemeinsam nach Eisleben gezogen sein. Ihre beiden Söhne Samuel und Jacob wurden 1864 und 1869 noch in Lemberg geboren. Die Tochter starb zweijährig 1884 in Eisleben. Die Bratels sind also zwischen 1870 und 1884 nach Eisleben gezogen.

 

Am 27. April 1890 wurde durch die Eisleber Polizeiverwaltung für die “baulichen Veränderungen in dem Hause des Herrn Albert Schmidt, Kaufmann hier,“ in der Rammthorstrasse 49 der “Bau-Consens” dokumentiert. Geplant war die Verbreiterung des Schaufensters über die gesamte Hausbreite. Das Haus war 1867 “auf dem Gartengrundstück des Maurers Ackermann am Rammthore” errichtet worden. [1]

 

1892 annoncierte Pinkus Bratel im Eisleber Adressbuch:

„P. Bratel, Rammthorstrasse 49, am Stadtgraben, empfiehlt sein großes Lager in Woll-, Weiß- und Kurzwaren zu sehr soliden Preisen.“[2]

 

Am 8. Oktober 1895 schrieb P. Bratel an die Polizeiverwaltung in Eisleben: “Da wiederholter Aufforderung der hiesigen Gasanstalt, den Gasgeruch, welcher sich in meinem Keller […] bemerkbar macht, vergebens um Abhilfe gebeten habe, so ersuche ich hiermit die wohllöbliche Polizeiverwaltung dafür Sorge zu tragen, die hiesige Gasanstalt zu veranlassen, dem Übel abzuhelfen. Hochachtungsvoll P. Bratel.” [1]

 

Am 19. März 1896 starb Pinkus Bratel an Magenkrebs und wurde drei Tage später auf dem neuen jüdischen Friedhof in Eisleben bestattet.[3]  Der Grabstein war 2001 noch vorhanden. [4]

 

Offenbar war auch das Haus Rammtorstraße 49 von den bergbaubedingten Senkungsschäden betroffen, denn am 9. März schrieb Marie Bratel an die Eisleber Polizeiverwaltung: “In der Hausentschädigungssache der Mansfelder Gewerkschaft beantrage ich hiermit, mein Haus Rammthorstrasse 49 durch eine Baucomission […] untersuchen lassen zu wollen, da sich an demselben bedeutende Risse in allen Teilen bemerkbar machen […].” Später intervenierte der Sohn, wohl Jacob Bratel, in dieser Angelegenheit bei den Behörden. [1]

 

1898 starb die Witwe des Kaufmanns Pinkus Brathel, die Todesursache wurde mit Lungenentzündung infolge von Influenza angegeben. Der Grabstein ist heute noch auf dem Friedhof zu finden, die Inschrift ist aber stark verwittert und kaum noch zu erahnen.

 

 

JACOB BRATEL

Ihr Sohn Jakob Bratel wurde am 28. März1869 in Lemberg
geboren. Er war verheiratet mit Martha Goldstein (1886 – 1942). Sie kam aus der wohlhabendsten jüdischen Familie in Eisleben und war eine Tochter von Hermann Goldstein, dem Bruder von Benno Goldstein. Es ist erstaunlich, wie rasch die Bratels sich in der hiesigen Gesellschaft etablieren konnten.

1899: Am 4. August beantragte Jacob Bratel die “Vergrößerung des Verkaufsladens”. [1] Nachdem der Vater zuvor das Schaufenster um eine Achse verbreitern ließ, wird nun die ganze Straßenseite zum Schaufenster.

1900: Am 23. Dezember starb der ältere Bruder Samuel in Thale, wo er wohl zu einer Kur war, an einer Lungenentzündung mit erst 36 Jahren. Jacob Bratel ließ den Leichnam nach Eisleben überführen und bestattete ihn am 26. Dezember. Im Register des neuen jüdischen Friedhofes wird Samuel als Pflegling bezeichnet. Als Ort der Bestattung wurde zuerst “Thale” notiert. Das wurde dann durchgestrichen und es wurde die Grabstelle auf dem neuen jüdischen Friedhof in Eisleben eingetragen. Damals war es wohl unüblich, den Verstorbenen so weit zu transportieren. [3]  Das Grab wurde 2001 schon nicht mehr gefunden.

1903: Am 10. Februar beantragte Jacob Bratel den Neubau eines dreigeschossigen Anbaus auf dem Grundstück Rammtorstraße 49 auf der Seite zur Gasse hin. Im Erdgeschoss ist ein Waschhaus, im 1. Obergeschoss ein Lager und im 2. Obergeschoss eine kleine Kammer mit Bad geplant.

1912: Jacob Bratel war Repräsentant der Israelitischen Gemeinde.

 

1927: Am 2. Februar ersuchte Jacob Bratel die Eisleber Polizeiverwaltung um die “Erlaubnis zur Anbringung einer Markise”. Die Genehmigung wurde erteilt. Einige Zeit später notierte ein Beamter, dass die Markise noch nicht angebracht sei, dies aber bald geplant sei.

 

Auch 1929 und 1936 war Jacob Bratel als Repräsentant der Israelitischen Gemeinde im Eisleber Adressbuch eingetragen.

1938: Die Eheleute Bratel wurden vom 2. Februar 1938 bis Ende Dezember 1938 im KZ Buchenwald interniert. Das Haus wurde in der Reichspogromnacht durch den nationalsozialistischen Mob angegriffen. Ein Augenzeuge erinnerte sich:

“Am selben Tag ging ich die Rammtorstraße hoch, rechts, gegenüber vom Park, war das Textilgeschäft von Bratel. Da hingen die Betten zum Fenster hinaus, aufgeschnitten, dass die Federn herausflogen.“ [4]

 

DAS JUDENHAUS

1941: Nachdem der Grundbesitz von Juden in arischen Besitz übergegangen war, und vielen die Wohnungen gekündigt, blieb nur noch der Einzug in ein so genanntes „Judenhaus“. Auch in Eisleben gab es ein solches. Das Haus der Eheleute Bratel wurde zur letzten Zufluchtsstätte der noch ansässigen Juden. [4]

 

„… Zur Verfügung steht ein Wohngrundstück, das noch in jüdischem Besitz ist und zwar das Grundstück Rammtorstraße 49, das Herrn Jakob Bratel gehört. In dem Grundstück sind vorhanden im Erdgeschoß ein Laden, der noch in dem gleichen Zustand ist, wie er nach der November-Aktion 1938 war, d.h. er ist vollkommen zerstört. Es sind weder Fenster noch Türen vorhanden. […] Im Erdgeschoß befindet sich ferner neben dem Laden ein großes Zimmer, ein kleines Zimmer (etwa 2 ½ x 2 ½) und eine noch kleinere Küche, die von der Familie Julius Moses[3 Personen – der Verf.] bewohnt werden. Im 1. Stockwerk wohnen der Hauseigentümer Herr Bratel mit seiner Ehefrau und deren Onkel Herr Isenberg. Sie bewohnten dort bisher ein Zimmer etwa 6 x 5 m, ein Zimmer etwa 3 x 3 m, ein Zimmer etwa 3 x 2 m und ein Schlafzimmer sowie eine Küche. Im zweiten Stockwerk hat die Witwe Dora Moses ein Zimmer etwa 3,2 x 3,2 m und eine Kammer etwa 3 x 2 m inne.“ (Brief von Leo Hirsch an die Bezirksstelle Sachsen-Thüringen der Reichsvereinigung der Juden vom 4. November 1941) [4]

Ferner mussten die Eheleute Katzenstein und Mosbach dort untergebracht werden, nachdem man sie aus ihren alten Wohnungen verwiesen hatte. [4] Schaut man auf die Grundrisse des Hauses, kann man sich nicht vorstellen, wie hier die elf Menschen gewohnt haben. Und das Erdgeschoss war ja zerstört.

 

Um die Lage noch zu verschärfen, wurden alle zur Zwangsarbeit eingesetzt. „Am 19. November 1941 wurden 10 Juden und Jüdinnen der Stadt zur Straßenreinigung zwangsverpflichtet, unter ihnen auch Kranke und Greise im Alter von 73, 76 und 82 Jahren!“ [4]

 

Bei Jakob Bratel, der 82-jährig noch zur Zwangsarbeit herangezogen wurde, stellte der Vertrauensarzt „einen sehr starken allgemeinen Abbau, Krampfadern, Bruchanlagen und eine noch nicht geheilte Nierenbecken- und Blasenentzündung“ fest. Trotz alledem hielt ihn der Arzt halbtags für arbeitsfähig mit der Begründung: „…weil Juden anders behandelt werden müssen als die deutschen Volksgenossen“. [4]

 

Am 15. April 1942 mussten alle Eisleber Juden in das so genannte jüdische Altersheim in der Boelckestraße nach Halle umziehen. Ein Augenzeuge beschrieb, wie die Gruppe den Weg durch den Stadtgraben zum Bahnhof nahm.

Mit den Bratels gingen die Familien Dr. Ludwig Königsberger und Moses, sowie die Eheleute Mosbach und Katzenstein. [4] Am 20. September 1942 wurden Jacob und Martha Bratel in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Hier starb Jacob Bratel am 19. Januar 1943. [5]  Er wurde entweder ermordet, oder starb aufgrund der unmenschlichen Verhältnisse in dem Konzentrationslager. Am darauf folgenden Tag wurde Martha Bratel in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt. Dort wurde sie ermordet.

 

Die beiden Söhne Gerhard und Hans Bratel hatten das Eisleber Gymnasium besucht. In den 1930er Jahren emigrierten sie nach Frankreich. Dort schloss sich Gerhard der Résistance an und wurde am 19. Juli 1944 von deutschen Soldaten hingerichtet. Der Bruder Hans überlebte. Er promovierte und wurde in Lyon Dozent an der Universität. Seinen Sohn nannte er nach seinem Bruder “Gérard”. [6]

Frau Amelie Fried und ihr Mann Peter Probst werden 2010 die beiden Stolpersteine für Jacob und Martha Bratel stiften.

Quellen:

[1] „Akte für das Haus Rammtorstraße 49“, Stadtarchiv Eisleben

[2]  Einwohneradressbuch Eisleben 1892

[3]  “Register zum neuen Friedhof ,” 1882-1938, PSR  BO68, Bundesarchiv, Dr. Ludwig Königsberger e.a.

[4] Maxi Wendt, “Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Eisleben von–Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu ihrer Auflösung–Eingereicht beim Landesprüfungsamt für Lehrämter in Sachsen Anhalt”, Wissenschaftliche Hausarbeit–zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien, 03.03.1993.

[5] Yad Vashem, “The Central Database of Shoah Victims‘ Names,” 2007-2009

[6] Brief von G. Bratel, 2008.

Die blaustichigen Fotografien stammen aus 2008. Die Schwarzweiß-Abbildungen sind historisch. Nähere Angaben zu den Quellen und weitere Daten können dem Abschnitt „Genealogie“ entnommen werden.

Rammtorstraße 49  (2008).

Pinkus Bratel.

Marie Bratel, geb Gut.

Werbung ca. 1892.

Grabstein der Marie Bratel, geb. Gut, 1833-1898 auf dem neuen jüdischen Friedhof in Eisleben.

Das Erdgeschoss: Bauakte vom 24.04.1890.

Das 1. Obergeschoss: Bauakte vom 24.04.1890

Jacob Bratel-

Martha Bratel, geb. Goldstein.

Alle elf Bewohner des „Judenhauses“ wurden ermordet:

Jacob Bratel

1943 KZ Theresienstadt

Martha Bratel

1943 KZ Auschwitz

Siegmund Isenberg

1943 KZ Theresienstadt

Alfred Katzenstein

1942 KZ Sobibor

Paula Katzenstein

1942 KZ Sobibor

Gustav Mosbach

1942 KZ Sobibor

Hedwig Mosbach

1942 KZ Sobibor

Julius Moses

1942 KZ Sobibor

Johanna Moses

1942 KZ Sobibor

Siegfried Moses

1942 KZ Majdanek

Dora Moses

1943 KZ Theresienstadt

KZ Theresienstadt, Kolumbarium im Mauerwerk der Befestigungsanlage:

In der Nähe der Totenkammern wurden 1942 Räume zur Aufbewahrung der Asche der Verstorbenen eingerichtet.

KZ Auschwitz, Einfahrt.

Bundesarchiv Bild 175-04413

KZ Theresienstadt, Kolumbarium im Mauerwerk der Befestigungsanlage:

In der Nähe der Totenkammern wurden 1942 Räume zur Aufbewahrung der Asche der Verstorbenen eingerichtet.