MARKT 54
Im Adressbuch von 1901 ist in diesem Haus folgendes Geschäft verzeichnet: „R. Wolff Nachflgr. Herrengarderobengeschäft“. Das Geschäft hatte Moritz Moses Levi inne, der 1901 auch stellvertretender Repräsentant der Israelitischen Gemeinde war. Er wohnte 1901 in der Glockenstraße 16. 1899 hatte er Elly Lilienfeld geheiratet.
1904 gehörte das Haus dem jüdischen Kaufmann Georg Schottländer. Er war am 11. Mai 1859 in Ellrich im Harz geboren worden. Der Vater Abraham Schottländer war 1827 in Bleicherode geboren worden und war 1862 Viehhändler in Hettstedt. Er war verheiratet mit Henriette Löwenthal aus Aschersleben. Die Familie Schottländer lässt sich als jüdische Kaufmannsfamilie in Bleicherode bis 1750 zurück verfolgen. Viele Juden mit dem Namen Schottländer stammen aus dem Danziger Vorort Schottland, der vom 16. bis zum 19 Jahrhundert ein bedeutender Handelsort war.
1901 wohnte Georg Schottländer in Eisleben Am Sperlingsberg 1 und hatte zu dieser Zeit die „Mode- u. Schnittwarenhandlung“ in der Sangerhäuser Str. 4. Er war stellvertretender Vorsitzender der Israelitischen Gemeinde. Am 7. Juli 1893 kam seine Tochter Hertha zur Welt. Am 4. März 1925 starb seine Frau, Marie Cohn, deren Grabstein auf dem neuen jüdischen Friedhof mit einer Urne bekrönt ist. Ihre Urenkelin aus Israel ließ den Grabstein kürzlich restaurieren.
1936 hatte Schottländer dann das Geschäft für Herren- und Knabenkonfektion am Markt 54, er war der Hauseigentümer und wohnte über dem Geschäft. Im Kirchensteuerjahr 1938 – 39 zahlte Schottländer 80% seines Einkommens an die Gemeinde. Nach 1938 kam er in das ehemalige jüdische Altersheim in der Boelckestraße 24 in Halle. Wie bereits beschrieben, brachten die Nationalsozialisten viele Juden in dieses Haus und ließen sie dort unter unwürdigen Umständen wohnen. Dort ist Schottländer am 29. März 1942 im Alter von 82 Jahren gestorben.
Die Tochter Hertha Cella Schottländer konnte dem Holocaust entkommen. Der Reichsanzeiger veröffentlichte am 16. April 1941 ihre Ausbürgerung und die Beschlagnahme ihres Eigentums. Da war sie bereits im Exil, denn sie hatte mit ihrem Mann Arthur Arndt und ihrer Tochter Liselotte am 13.09.1939 das Schiff St Louisbestiegen, um nach Kuba auszuwandern. Das Schiff war mit 909 jüdischen Flüchtlingen besetzt. Kuba, die USA und andere Staaten auf dem amerikanischen Kontinent weigerten sich aber, die Flüchtlinge aufzunehmen. Das Schiff musste auf Anweisung der Reederei nach Europa zurückkehren, woran auch ein Versuch der Passagiere, das Kommando über das Schiff zu übernehmen, nichts änderte. Aber Kapitän Gustav Schröder setzte sich für die Flüchtlinge ein. Er erreichte, dass die Passagiere von Antwerpen aus auf einige westeuropäische Staaten verteilt werden konnten. Glücklicherweise kam Hertha mit ihrer Familie nach England und nicht, wie viele andere nach den Niederlanden, Belgien oder Frankreich, die wenig später durch die Deutschen besetzt wurden. Im Alter von 94 Jahren berichtete Hertha am 6. Juni 1988 in London der Gedenkstätte Yad Vashem, dass man ihren Vater in Halle buchstäblich hatte verhungern lassen. Hertha starb 1997 in Camden, London im Alter von 104 Jahren.
Der Sohn Erich Schottländer legte 1910 sein Abitur am Luthergymnasium in Eisleben ab. Er studierte Jura und ließ sich als Rechtsanwalt in Berlin nieder. Ihm gelang bereits 1933 die Emigration nach England und heiratete dort 1935 Gertrud Anna Müller aus Leipzig. Erich starb 1978 in Enfield, Greater London, im Alter von 80 Jahren.
Die Tochter Irene wurde 1907 in Halle geboren. Sie promovierte ebenfalls und heiratete 1926 in Eisleben Max Nadelmann aus Erfurt. Sie emigrierte in 30er Jahren nach England und schließlich nach Israel.
1938 wohnte in dem Haus noch Gertrud Stern. Sie war am 26. Februar 1875 in Gotha geboren worden. Mit ihrem Mann, dem jüdischen Kaufmann Max Salomon lebte sie in Halle. Nach dem frühen Tode ihres Mannes zog sie nach Eisleben, um als Wirtschafterin für Georg Schottländer zu arbeiten. Die beiden waren auch befreundet und unternahmen zusammen Ausflüge. Am 19. September 1942 wurde sie von Leipzig aus nach Theresienstadt deportiert. Am 9. Februar 1943 starb sie im Ghetto Theresienstadt.
Ihre Tochter Charlotte wurde 1900 in Halle geboren und heiratete 1923 den jüdischen Arzt Dr. Georg Hirschfeld aus Wittenberg. Sie wohnten in der Lindenstraße 67 in Halle. 1927 wurde ihr Sohn Klaus-Dieter in Halle geboren. Am September 1939 erreichten die Familie mit dem Schiff „The Oriente“ von Kuba aus den Hafen von New York. Charlotte starb 1988 in Nassau, New York.
Kurz vor ihrer Emigration nach den Niederlanden wohnte in dem Haus auch der jüdische Kaufmann Carl Herzfeld mit seiner nicht jüdischen Frau Margarethe, geb. Brüning (siehe Markt 55)